Stumme Redseeligkeit

Raus aus’m Kopp - rinn innen Körper

oder: das zweite "whuatt?!?" innerhalb eines Jahres

 

Ich habe eine Weile gebraucht, um mich für die richtige Sparte für dasjenige zu entscheiden, was just in diesem Moment aus meinen Hirnwindungen heraus in meine Fingerspitzen strömt (haben Sie es bemerkt? Schon der Inhalt des ersten Satzes deckt sich mit der zweiten Überschrift - amazing!).

Folgen wir dem Ausschlussverfahren: "Lesen", "Malerei", "Töpfern", "Biologie", "Filme" und "Schreinern" fielen flach. "Schreiben"? Joah, das trifft schon irgendwie zu. Aber da ich mich hier nicht mit Fiktion beschäftigen will, wäre diese Sparte nicht passend. Special interest? Nope. Sicher, es ist special und es ist interest, aber es ist nicht beides in Summe. Jedenfalls nicht so, wie ich es auf meiner Site verstanden haben will.

Eine neue Kategorie ins Leben rufen? Prinzipiell verlockend. Würden mich (und hoffentlich auch Sie) "da oben", sprich in der Navigationsleiste, nicht schon gefühlt hundert Überschriften zum Stöbern einladen - und hätte ich nicht erst vor ein paar Tagen eine weitere hinzugefügt ...

Veröffentlichen? Ja, auf eine untergeordnete Weise schon. Jedenfalls ist es so geplant. Ob es so kommen wird, wie ich - nein, wie wir - es uns vorstellen, zeigen die nächsten Tage.

 

Aber fangen wir von vorne an. Sind Sie über das "whuatt?" in der Überschrift gestolpert? Gut. Denn so soll es sein.

Gestolpert bin ich nämlich ebenfalls. Das - wie es bereits zu lesen ist - zum zweiten Mal in diesem Jahr. Schon einmal habe ich darüber sinniert, dass es offenbar noch immer Dinge gibt, die mich begeistern können, von denen ich bisher aber noch gar nichts wusste.

Eventuell habe ich es bereits erwähnt: seit April 2014 widme ich einen Teil meiner Zeit einem ehrenamtlichen Zweck. Einmal in der Woche besuche ich das Blauschimmel Atelier und unterstütze dort unsere hiesigen Künstler. Die tatsächliche Tätigkeit beschränkt sich auf Kleinigkeiten: Tee kochen; Papier, Stifte und Farbe austeilen; Dinge dieser Art. Aber die ideelle "Arbeit", welche sich dahinter verbirgt - so wurde mir jedenfalls zurückgemeldet - ist ungleich wichtiger.

Das Atelier hat in diesem Winter eine Fortbildung für ihre Ehrenamtlichen, Praktikanten und Interessierte angeboten, namentlich die ZukunftAkademie.

Ziel der Akademie war es (und ist es in Zukunft weiterhin), den Telnehmern etwas über die Historie des Ateliers sowie seine (projektbezogenen) Aufgaben näherzubringen. Abgerundet wurde das Angebot durch einen praktischen Teil, der es den Teilnehmern offen ließ, wie sie ein eigenes Projekt auf die Beine stellen können.

Wir entschieden uns für das Maskenspiel, eine Form des Theaters, welche seit langem zur Tradition des Ateliers zählt.

Nun. Ich selbst hatte damit bisher nichts am Hut. Die Masken hatte ich bis dato nur gesehen, weil wir uns die gleichen Räumlichkeiten teilen und einige von ihnen "da so rumhängen".

Skurril sind sie. Groß. Geheimnisvoll. Mitunter ... beängstigend.

Sie erzählen ihre Geschichten bereits ohne dass sich unter ihnen ein Spieler verbirgt.

Die Zeit, uns selbst eine Maske zu erstellen hatten wir im Rahmen der Akademie leider nicht, daher griffen wir auf die bereits bestehenden zurück.

Unsere Kursleiterin hatte einen Karton vorbereitet, in dem ein paar der ausgewählten Schätze auf uns warteten. Wir sollten wählen.

"Meine" Maske war - zugegeben - nicht die erste, die mich ansprach. Die erste war düsterer, abweisender, - man möge mir verzeihen - hässlicher. Doch dann näherte ich mich "Peter", wie ich sie später nannte, vorsichtig an.

Peter wirkt auf den ersten Blick wie ein verglücktes Tier. Ähnelt mehr einem Löwen als einem Menschen. Orangefarbene Flokatihaare dominieren sein Haupt, fressen sich über seine Wangenknochen, bilden dort Koteletten, machen ihn zu einem Überbleibsel der Rockerszene, wie sie in den Achtzigern über die Leinwände rollte. Ein Schnäuzer komplettiert die Fellpracht. Sein Kinn sticht hervor, droht jedem den Kampf an, der es wagt, sich mit ihm zu anzulegen.

Wir alle setzten uns mit unserer Beute auf Stühle, betrachteten die fremdartigen Gesicher, versuchten eine Verbindung mit ihnen aufzunehmen.

 

"Schaut sie euch genau an. Wer sind sie?", wurden wir gefragt.

Tja, wer war er?

"Nun, er lebt in einer Höhle", antwortete ich und sah Peter tatsächlich vor einem Lagerfeuer hocken, seinen entblösten Hintern auf die rechte Ferse geparkt, die Unterarme auf die nackten, zerschrammten und schmutzigen Knie gestützt.

"Aber das haben wir hier ja nicht ..."

Leises Gelächter drang durch den Raum.

Die Höhlenwände, an denen das Feuer leckte, den schartigen Unebenheiten tiefschwarze, tanzende Schatten aufdrückte, wichen zurück.

"Ein Einzimmerappartment."

Ja, das passte. Die Felswände glätteten sich, machten einer nikotingelben Rauhfasertapete Platz. Peter hockte nicht mehr auf der Ferse, sondern breitbeinig auf einem verranzten Sofa.

"So ein versifftes, ihr wisst schon."

Chaos in den Ecken, getragene Kleidung auf dem Boden. Bierdosen dazwischen.

"Er ist ... einsam."

Ich drehte seinen stummen Schädel nachdenklich in den Händen.

"Alkoholiker. So ein "rauhe Schale, weicher Kern"-Typ. Vordergründig aggressiv."

Das war sozusagen seine erste Geburt gewesen.

 

Wir - die Teilnehmer - machten uns über den Fundus her. Peter brauchte etwas Altes, Kaputtes. So wie er selbst. Wir fanden eine abgetragene Lederjacke. Eine, die mir drei Nummern zu klein ist - mindestens! Aber wissen Sie was? Sie passt zu Peter. Er ist über die Jahre träge geworden, trinkt zu viel, isst zu viel Fastfood. Gammelt rum und hat sich eine veritable Wampe angezüchtet. Seine Jacke hat er aber behalten. Vielleicht ist er sentimental, vielleicht auch zu knapp bei Kasse, um sich etwas neues zu besorgen. Vielleicht ist er zu unreflektiert, überhaupt zu bemerken, dass das Jackending nur deshalb nicht mehr über dem Bauch spannt, weil er es schlichtweg nicht mehr schließen kann.

 

Sehr geehrter Leser dieser Seite, falls Sie die folgende Erfahrung noch nie gemacht haben, so lege ich sie Ihnen an dieser Stelle wärmstens ans Herz.

 

Es gibt ein Ritual, bevor der Spieler auf die Bühne kommt. Er verlässt den Raum, setzt die Maske auf, wartet ab, bis die Zuschauer ihn willkommenheißen.

Peter aufzusetzen war ... eigenartig. Ich wusste wie er war, ich hatte ihn ja bereits beschrieben - aber gespürt hatte ich ihn noch nicht. Kaum saß er auf meinem Kopf und kaum schob er sich mit mir durch die Tür zur Probe ...

Er lief mit weitausholenden Schritten. Seine Füße nahmen sich den Raum, der ihnen zustand. Die Schultern schienen breiter zu werden, als sie es bei mir war. Seine Arme hielt er abstehend neben sie. Sein gesamter Körper strahlte aus, dass er jetzt da war - dass er jede Aufmerksamkeit verdiente, die er nur kriegen konnte.

Er lief zu den vorbereiteten Stühlen, hockte sich darauf, lehnte sich zurück. Die Knie weit gespreitzt, die Füße nach aussen gedreht. Und dann griff er sich - ganz selbstverständlich - in den Schritt.

Er strahlte Aggressivität aus, ohne auch nur ein einziges Wort zu verlieren.

So war er. So wollte er sich der Öffentlichkeit präsentieren.

 

Die nächste Probe, zwei Wochen später, barg eine Überraschung für mich und Peter. Die Aufgabe?

Spielt eure Figuren so, wie sie niemals sind. Was wäre das letzte, dass ihr ihnen zutraut?

Peter schob seinen breiten Schädel an dem Türblatt vorbei. Begutachtete das wartende Publikum, zog sich eilig zurück, als ihm fragende Blicke begegneten.

Ein erneuter Anlauf. Zögerlich.

Die weitausholenden Schritte waren vergessen, die breiten Schultern Vergangenheit. Klein, vorsichtig, ängstlich.

Er schlich auf die Stuhlreihe zu. Setzte sich aber nicht. Mit einer eiligen, sich rettenden Bewegung schob er sich dahinter. Seine Finger umkrampften die Stuhllehne. Langsam musterte er das Publikum, bereit dazu, die Flucht zu ergreifen, sobald er auch nur die geringste Gefahr witterte.

Nach ein paar Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen, entschloss er sich dazu, die Bühne wieder zu verlassen. Aber er wurde aufgehalten. Die Kursleiterin - wo war sie auf einmal hergekommen? Er hatte sie nicht kommen sehen - hielt ihm auffordernd eine beige Kunstledertasche entgegen. Er nahm sie, umkrampfte die steifen Henkel, presste die Tasche gegen seine Brust. Endlich ein Schutz. Dann wurde ihm etwas Weiches in die Hand gedrückt. Ein Stofftier. Nun, um der Wahrheit die Ehre zu geben: den abgerissenen Kopf eines Esels, dessen Innereien nur unter Mühen davon abzuhalten waren, dass sie sich aus ihrer Hülle lösten und munter auf den Boden purzelten.

Peter war während seiner zweiten Geburt von einem Aggressor zu einem ... verschüchterten Kind im Manne geworden.

 

Es fühlte sich korrekt an, wie es war.

Ich habe kein Bild von ihm, wie er ist, wenn er nicht auf der Bühne steht. Es gibt weder eine Höhle noch ein Einzimmerappartement. Vielleicht lebt er in einer betreuten WG, aber ich weiß es nicht. Es ist diffus.

Auf der Bühne ist er klar. Er ist schüchtern. Er will teilhaben an dem, was die Welt bietet, aber er traut sich nicht. Er nutzt das Stofftier (inzwischen durch einen kleinen Tiger ersetzt), um mit der Umwelt in Konakt zu treten.

Er ist viel zu schnell überfordert. Das zeigt sich, sobald er mit dem kleinen Jungen oder dem alten Mann in Kontakt tritt, welche durch andere Maskenspieler verkörpert werden. Der alte Mann ist gutmütig, hat einen Sinn dafür, was sich gehört und was nicht. Sein Enkel jedoch noch nicht. Peter fasst sich ein Herz, bietet dem kleinen Jungen sein Stofftier an. Erhält im Tausch dafür den Fußball des Kleinen. Aber er ist nicht in der Lage dazu, sein Eigentum zurückzufordern. Ohne das Eingreifen des Alten würde Peter nach wie vor verängstigt und verstört mit dem Ball in der Hand dastehen, ohne dass überhaupt Interesse an dem Spielgerät hätte.

Wäre ich ausserhalb, würde ich ihn beobachten, ich denke, ich würde ihn schützen wollen. Aber ich sehe sein Gesicht nicht, wenn er meinen Körper benutzt, um zum Leben erweckt zu werden. Sein Gesicht, welches in einem derart starken Kontrast zu seinem Inneren steht, dass er skurril auf Beobachter wirken muss.

 

Beobachter ...

Abschluss der ZukunftAkademie war ein Auftritt.

In der Öffentlichkeit.

Was bietet sich besser an, als ein Ort, an dem zu dieser Jahreszeit ordentlich was los ist?

Nun, vielleicht haben wir die Hecktik und das Desinteresse der Passanten auf dem Weihnachtsmarkt im Vorfeld unterschätzt. Ich hätte mir sicherlich mehr Interaktion gewünscht.

Dennoch war es aufregend. Es war eine wirklich, wirklich neue, noch nie gemachte Erfarhung für mich gewesen. Kaum saß Peter auf meinen Schultern, schon zog er Aufmerksamkeit auf sich. Ich konnte nur wenig von dem sehen, was um mich herum geschah, sein Gesichtsfeld ist locker nur ein Drittel so groß wie mein eigenes.

Erste, neugierige Blicke beantwortete Peter mit einem schüchternden Winken. Welches sogar beantwortet wurde!

Peter wurde zu einem jungen Teenager gerufen, er solle ihr etwas zeigen. Also präsentierte er ihr schüchtern den kleinen Tiger. Sie wusste nicht so recht, was zu tun war, also strich er dem Tiger über den Kopf und hielt ihr dann das Tier auffordernd entgegen. Sie machte es ihm nach. Lächelte. Er zeigte ihr "thumbs-up". Und sie? Sie wiederholte seine Geste. Zum Abschied winkte er, wande sich der Szene zu, welche mit den beiden anderen Masken abgesprochen war. Der kleine Junge kletterte auf dem Rollstuhl seines Großvaters herum, spielte Ball mit Passanten, bohrte in der übergroßen Nase.

Peter trat hinzu, präsentierte auch hier sein Stofftier. War - wie zu erwarten - verunsichert darüber, dass er seinen Liebling nicht zurückerhielt. Der Großvater sprach stumm sein Machtwort und irgendwann war der Auftritt vorbei. Peter und die beiden anderen exisiterten noch solange, bis sie um die nächste Ecke gebogen waren, dann verließen sie unsere Köpfe.

 

Die Quinessenz des - mal wieder - extrem langen Textes?

Ich mag es Maske zu spielen. Ich mag es, dem Charakter die Kontrolle zu überlassen. Natürlich ist mir klar, dass das für Aussenstehende seltsam klingen muss. Denn selbstverständlich bin ich es, der entscheidet, was die Maske tut. Allerdings verbirgt die Maske mein eigenes Gesicht und gibt mir auf diese Weise eine gewisse - und auf diese Art noch nicht gekannte - Freiheit. Es ist befreiend, sie zu nutzen.

Darüberhinaus haben mir die Tage in der ZukunftAkademie ein paar weitere Tätigkeitsfelder eröffnet. Das gefällt mir ebenfalls sehr.

 

Erinnern Sie sich daran, dass ich weiter oben versucht habe, zu erklären, wieso dieser Text ausgerechnet in der Kategorie "Veröffentlichen" aufgetaucht ist? Nun, zum einen hatten wir einen Auftritt vor (unfreiwilligem) Publikum. Zum anderen gehört zur Projekt- auch Öffentlichkeitsarbeit. Das heißt, wir versuchen in der Lokalzeitung einen Artikel unterzubringen. Wer ihn - mit reger Unterstützung des Blauschimmels - verfassen durfte? Rischtisch ...

Hoffen wir, dass er angenommen und (möglichst unverändert) abgedruckt wird. Sobald ich näheres weiß, werde ich entsprechend verlinken.

 

Es grüßt

 

Marina Clemmensen

 

 

P.S.: Wie ich erfuhr, war das Mädel mindestens so verängstigt gewesen, wie es Peter war. Umso schöner finde ich es, dass es ihm gelang, sie zu entspannen und ihr ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern.

 

 

Artikel:

 

Vorankündigung: "Maskenball zum Glühwein" in der NWZ (verfasst durch die Geschäftsleitung des Ateliers)

 

(leider stark eingekürzter und seltsam verlinkter) Artikel: "Skurriles Maskenspiel" in der nwzonline

 

17. und 18.12.2016, ergänzt am 01.01.2016

 

 

 

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